Viele Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder – insbesondere von Computerspielen – süchtig werden könnten. Heute gibt es Entwarnung: Denn nur in den seltensten Fällen geht es bei diesen Befürchtungen wirklich um Sucht.
Abgrenzung Sucht und exzessiver Gebrauch
Die „Computerspielsucht“ wurde 2019 in das ICD-11 aufgenommen. Das International Classification of Diseases ist ein Kategorisierungssystem für Krankheiten. Die ICD Schlüssel sind euch indirekt schon bekannt, ihr findet sie z.B. auf euren Krankschreibungen. In unserer Folge wollen wir Sucht von exzessiven Gebrauch bzw. Flow abgrenzen.
Um uns zu Beginn zu erden, schaue wir mal in die Studien. In denen ist von 1; 1,5; 3 manchmal sogar 5% Internetsüchtigen die Rede. Davon ist Computerspielsucht nur ein Teil. Maximal 5% sind nicht wenig, aber umgekehrt heißt es auch, dass Sucht für 95% kein Thema ist. Wobei, das müssen wir deutlich sagen, es nicht darum geht das Thema Sucht herunterzuspielen. Da wo es einen Verdacht auf Sucht gibt sollten Eltern immer aktiv werden. Zum einen bedeutet das, das Gespräch zu den Betroffenen zu suchen und ggf. professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das geht zum Beispiel über den Fachverband für Medienabhängigkeit oder beim Online-Ambulanz-Service für Internetsüchtige.
Eine weitere Randbemerkung: Die Aufnahme von Computerspielsucht in das ICD, wird unter Expert*innen nach wie vor heftig diskutiert. Kritiker*innen befürchten, dass es sich um kein eigenständiges Krankheitsbild handelt, sondern dass Computerspielsucht eher ein Symptom anderer Probleme wie Depressionen ist. Diese Vertauschung könnte Behandlung deutlich erschweren.
Uns geht es im Podcast darum, dass Sucht weder runtergespielt noch zur Panikmache verwendet wird. Wir bitten darum, im Sprachgebrauch – genau wie beim Mobbing – sensibel zu sein. Nicht jeder Streit ist Mobbing und so ist nicht jede durchgezockte Nacht mit Sucht gleichzusetzen.
Definition von Computerspielsucht laut ICD-11
Stellt sich die Frage, wann man überhaupt von Computerspielsucht sprechen kann.
Wenn anhaltend und wiederkehrend ein Spielverhalten beobachtet werden kann, bei dem die Häufigkeit, Intensität oder Dauer außer Kontrolle geraten ist. Es wird weitergespielt, obwohl das Spielverhalten bereits persönliche, familiäre, soziale, erzieherische, berufliche und/oder andere wichtige Lebensbereiche erheblich beeinträchtigt, und zwar seit mindestens zwölf Monaten.
Unabhängig von der genauen Suchtdefinition, gilt es sich zu kümmern, wenn es Leidensdruck gibt. Das gilt für die Kinder ebenso wie für die Erwachsenen, wenn sie das Gefühl haben, dass das Familienleben leidet.
Umgekehrt sollte der Begriff Sucht nicht missbraucht werden, um die Gruppe der Vielnutzer*innen, die keinen Leidensdruck verspüren und die keine langfristigen negativen Konsequenzen in ihrem Leben haben, zu pathologisieren. Es ist doch bemerkenswert, dass die Autor*innen der Panikmache-Artikel eben nicht verlangen, dass Therapie-Programme oder gute und kostenlose Alternativfreizeitangebote für Jugendliche ausgebaut werden, sondern eher in der folgenden Art anklagen: „Kleinkind beim Tablett geparkt – wie verantwortungslos sind eigentlich Mütter?“ oder „Immer mehr Eltern beachten ihre Kinder am Spielplatz nicht uns starren stumpf in ihre Handys“
Probierkonsum, Impulskontrolle und Flow
Sucht kann leicht mit exzessiven Gebrauch verwechselt werden und da da sind wir wieder beim Thema Pubertät und Entwicklungsaufgaben. Denn die Pubertät ist eine Phase, in der gerne Neues ausprobiert wird. Die Jugendlichen können sich in bestimmten Tätigkeiten verlieren und probieren – teils exzessiv – Dinge aus. Der Psychologe Lukas Wagner nennt dieses jugendliche Verhalten „Probierkonsum” und weist darauf hin, dass dieser durchaus große Ausmaße annehmen kann. Alles Neue übt erst mal eine große Faszination auf Kinder und Jugendliche aus. In den meisten Fällen verwächst sich das Interesse aber wieder.
Ein anderes (und dennoch ähnliches) Thema ist Vielkonsum bei viel jüngeren Kindern. Die haben ihre Fähigkeit zur Selbstregulation noch nicht ausbilden bzw. ausreichend trainieren können. Damit sie aber trainiert werden kann, sollte das Kind miteinbezogen werden. D.h. wenn die Eltern die Art und Dauer des Konsums alleine festlegen und dann das Gerät einfach ausschalten, hat das keinen Lerneffekt für die Kinder. Man sollte Kinder also altersgemäß mitentscheiden lassen. D.h. ich spreche mit dem Kind wann es überhaupt passt etwas zu tun. An einem regnerischen Tag nach der Kita, aber nicht an einem strahlenden Sonnentag, wenn man mit Freund*innen auf den Spielplatz gehen kann. Dann bespricht man den Rahmen „Eine Folge Dinotrain, die dauert 20 Minuten“ und dann ganz wichtig, bittet man die Kinder selbst Verantwortung zu übernehmen: „Dann machst du aus.“
In dem Alter ist es übrigens darüber hinaus wichtig, dass es einen abgeschlossenen Spannungsbogen beim Medienkonsum gibt. Es ist deswegen besser eine Folge einer altersgemäßen Serie zu schauen als einen längeren Film auf 2 Tage zu verteilen.
Rollt ihr schon mit den Augen? Natürlich klappt das mit den Vereinbarungen nicht immer. Aber das ist ja, was sich lernen nennt. Es gelingt nicht immer, aber durch Wiederholung gelingt es immer besser. Wichtig ist zu verstehen, dass man mit Kindern Strategien einüben muss, die es ihnen ermöglichen ihre Impulse zu kontrollieren.
Physiologisch hängt zusätzlich der Reifegrad des dorsolateralen präfrontalen Kortex an der Impulskontrolle. Zweijährige können sich einfach kaum regulieren, weil diese Struktur noch so wenig ausgereift ist. Mit Übung und Reifung funktioniert es dann immer besser und in der Pubertät, wenn das Gehirn wieder großflächig umgebaut wird, gerät so einiges wieder aus dem Gleichgewicht. Deswegen durchleben Kinder auf eine gewisse Weise in beiden Altersstufen eine Autonomiephase – nur eben mit anderen Themen.
Zur Beruhigung: der präfrontale Cortex ist die Struktur im menschlichen Hirn, die am meisten Zeit für ihre Entwicklung braucht: bis zu 25 Jahre dauert es, bis er völlig ausgereift ist. Ein hilfreiches Eltern-Mantra lautet also: „Ah, da braucht der präfrontale Cortex noch ein bisschen Zeit, ohmmmm!“
Ein weiteres Phänomen, das Eltern vielleicht manchmal das Gefühl gibt, die Kinder seien süchtig, weil sie rechts und links gar nichts mehr wahrnehmen, nennt sich „Flow“.
Flow bezeichnet das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit und zwar weil es ein Gleichgewicht zwischen Herausforderung und Können gibt. Computerspiele können genau diesen Punkt supergut treffen. Plus: Kinder kommen noch viel leichter in einen Flowzustand als Erwachsene.
Befinden sich Kinder im Flowzustand, geht der präfrontale Cortex in den Ruhezustand. Deswegen springen Kinder (Menschen allgemein) nicht so gerne auf wenn sie in etwas vertieft sind und zum Essen gerufen werden. Der Ruf wird erstmal einfach unter „unerwünschte Störung“ verbucht und die Gefühle fließen ungehindert. Das is der Grund warum manche Kinder aggressiv reagieren, wen man sie trotz genauem Aushandeln der Konditionen bittet das Spiel zu unterbrechen. Ein Elternhack an der Stelle ist es übrigens nicht selbst zu rufen, sondern das Kind einen Wecker stellen zu lassen, wenn die Spielzeit vorbei ist und das Abendessen ansteht. Da wird dann der Wecker angehatet. (Jedenfalls das 1. Mal. Wenn das Kind trotz klingelndem Wecker nicht kommt, muss man ja doch wieder selbst ran.)
Falls ihr euch jetzt fragt, wieso die eigentliche Sucht gar nicht Schwerpunktthema dieser Folge war: Uns war es viel wichtiger, auf die Fälle einzugehen, die fälschlicherweise für Sucht gehalten werden, jedoch andere Gründe haben. Helfen diese Erklärungen alle nichts und ihr habt das Gefühl, dass euer Kind eben doch zu den 5% Betroffenen gehört, oder denkt ihr einfach nur, dass Computerspiele oder die Medienzeiten im Allgemeinen ein so ungesundes Maß angenommen haben, dass euer Familienalltag gestört wird, wendet euch bitte an die von uns genannten Beratungsstellen.
Unser Partner SCHAU HIN! hat auch noch ein paar Tipps für euch:
- Medien ohne Ende – wann ist viel zu viel?
- Rubrik: Alles über Games
- Digitaler Elternabend #7 Computerspielsucht
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Die Musik in Intro und Outro stammt von Joseph McDade.
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Bin zwar nicht Zielgruppe, höre aber sehr gerne und interessiert zu. Wer weiß, wann man das Wissen mal brauchen kann. In dieser Folge hat mich der Abspann extra zum schmunzeln gebracht. Schön, dass das auch Profis passiert, und nicht nur mir kleinem Praktikanten damals beim Radio…
Zielgruppe sind alle! 🙂
(Was genau beim Abspann meinst du? Hab ich was beim Schneiden überhört?)
Es läuft ein Loop „Weil verstehen besser als verbieten ist“. Das ist natürlich Absicht *hüstel*. Damit man sich das gut merken kann 😀
Außerdem: Phantastische Durchhörrate!
Danke, Morgan, für den Hinweis!